Donnerstag, 3. Oktober 2019

Leserbrief zum Artikel „Es ist kontraproduktiv, Wachstum zu verteufeln – auch und gerade im Rahmen der Klimadebatte“ in denNachDenkseiten


Zitate:
„Der Dienstleistungssektor kann immer nur zusätzlich zur Rohstoffwirtschaft existieren, nicht jedoch an ihrer statt. Daher haben Dienstleistungen einen nicht unwesentlichen Ressourcenverbrauch, der häufig zusätzlich zu dem von Waren nicht an Stelle von diesem gerechnet werden muss (aus Entkopplungsreport „Decoupling debunkedEvidence and arguments against green growth as a sole strategy for sustainability2019 – EEB European Environmental Bureau)“

„Darüber hinaus ist die sogenannte Entmaterialisierung in den kapitalistischen Kernländern die Kehrseite der Produktionsverlagerung in die Peripherie beziehungsweise Semiperipherie, das heißt ein Indiz für die Umverteilung des Mehrwerts von der Peripherie und Semiperipherie ins kapitalistische Zentrum“ (aus „Das Märchen vom grünen Wachstum“, Seite 50, Bruno Kern, Rotpunktverlag)

„Dass dies einige wenige Soziologen und Wirtschaftsjournalisten aus dem Umfeld von taz und Co. anders sehen, ist erstaunlich, passt aber wohl zum linksliberalen Zeitgeist, der ökonomische und soziale Fragen hintanstellt und stattdessen lieber auf abstrakter Ebene verschrobene Theoriedebatten in Parallelwelten führt, in denen ökonomische Gesetzmäßigkeiten nicht mehr gelten. Das mag für die Beteiligten ja als sinnstiftend und intellektuell befruchtend wahrgenommen werden – der gesellschaftlich nötigen Debatte erfüllen derart weltfremde Gedankenspiele aus dem Elfenbeinturm jedoch einen Bärendienst und stellen vor allem für progressive Anstöße einen Stolperstein dar.“ (Jens Berger in NachDenkseiten, „Es ist kontraproduktiv, Wachstum zu verteufeln – auch und gerade im Rahmen der Klimadebatte“, 02.10.2019)

Mein Text:
Dieser letzte Textauszug aus den Nachdenkseiten ist der ideologischte, manipulativste, propagandistischte, populistischste, sektiererischte, verschrobenste und weltfremdeste Text, den ich seit langem gelesen habe. Und er erscheint ausgerechnet in den NachDenkseiten, deren Herausgeber gerade ein Buch mit dem Titel „Glaube wenig, hinterfrage alles, denke selbst“ veröffentlicht hat. Er steht am Ende eines Textes, der falsch ist, weil er nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat.

Ich kenne keinen Text aus dem Umfeld der Postwachstumsbewegung, der sich gegen Innovation und Kreativität wendet. Diese beiden Merkmale sind ja geradezu notwendig, wenn man gegen das Wachstumsdogma der gegenwärtigen kapitalistischen Produktionsweise ankämpft. Klar ist auch, daß eine postkapitalistische Wirtschaft und Gesellschaft dynamisch sein muß; denn sie muß einerseits Altes, Überflüssiges und Schädliches beseitigen, andererseits aber auch Neues schaffen, z. B. viele, viele kleine Dorfläden statt gigantischer Einkaufspaläste in den urbanen Zentren.
  
Klar ist aber auch, daß die Entkoppelung von Wachstum und Ressourcenverbrauch noch nie funktioniert hat, nicht funktioniert und auch nie funktionieren wird. Diese Erkenntnis findet sich nicht nur bei der Postwachstumsbewegung, sondern auch in inzwischen zahlreichen Studien, von denen ich oben nur die des“Europian Environment Bureau“ anführe. Und für Dienstleistungen gilt, was ich in beiden Zitaten anführe: auch sie sind in der Regel mit der Zunahme von Ressourcenverbrauch verbunden. Wenn man nun noch bedenkt, daß es heute schon vier Erden bräuchte, wenn alle lebenden Menschen so viele Ressourcen verbrauchen würden wie die etwa 40 % wohlhabendsten Bewohner*innen der 20 reichsten Industrieländer, läßt sich leicht ausrechnen, daß der Ressourcenverbrauch in diesen Industrieländern und dieser Verschwendungseliten und damit die gesamte industrielle Herstellung von Produkten und Dienstleistungen um etwa 70 bis 80 Prozent verringert werden muß. Dies wird entweder freiwillig durch die Menschen selbst geschehen oder der Planet wird es erzwingen. Begonnen hat dieser Prozess des Erzwingens ja schon, mit der Klimaerhitzung und allen anderen bekannten Krisenerscheinungen.

Tempelpriester und Todesengel

Der Herr Prof. Fritz Söllner hat völlig recht, wenn er in seinem Leserbrief schreibt: „Unabdingbar für eine effektive und effiziente Klimapolitik ist eine international koordinierte Vorgehensweise“. Sein Schluß, weil diese zur Zeit fehle, sei es deshalb besser, sich lieber an die Klimaerhitzung anzupassen als weiter auf nationaler Ebene Maßnahmen zum Klimaschutz zu planen und durchzuführen, ist aus Sicht der kapitalistischen Ökonomie logisch; denn die profitiert nicht am Sparen von Energie und Material, sondern an der Verschwendung. Für die nachfolgenden Generationen ist diese Sicht allerdings menschenverachtend. Für die macht es Sinn, heute schon und auch in Zukunft um jedes Zehntelgrad weniger Klimaerhitzung zu kämpfen.

Dafür muß man nicht alle 193 Staaten dieses Planeten gewinnen, sondern gerade mal zwanzig davon, also 10 %. Sie sind für knapp 80 % der CO2-Emissionen verantwortlich, repräsentieren knapp 90 % des Welt-Brutto-Sozial-Produktes und 64 % der Weltbevölkerung. Die Eliten dieser 20 Staaten muß man zu einem gemeinsamen Vorgehen zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen zwingen. Dies wird den Bevölkerungen dieser Staaten umso eher gelingen, je weiter die Klimaerhitzung fortschreitet. Zusätzlich erleichtert wird dieser Kampf, weil, bezogen auf die Wirtschaft, auch wieder ca. 70 % der CO2-Emissionen von nur 100 Konzernen verursacht werden, die alle in den angeführten 20 Staaten beheimatet sind. Gehen diese Staaten, unterstützt von den Vereinten Nationen, endlich gemeinsam gegen diese Profitgeier vor, können sie von diesen Konzernen nicht mehr gegenseitig ausgespielt werden und können sie zu einem ökologischeren Verhalten zwingen.

Für die kapitalistische Ökonomie ist es natürlich profitabler, weiterzumachen wie bisher. Der Bau von Deichen und Klimaanlagen für öffentliche Gebäude etc. bringt leicht verdientes Geld, weil der Kunde immer der Staat ist, der diese Investitionen nicht ablehnen kann. Das nächste kapitalistische Geschäftsmodell, das wahrscheinlich ebenso gigantische Profite wie das Rüstungsgeschäft bringen kann, ist auch schon in Sicht. Ist die Klimanot erst einmal groß genug, wird es den kapitalistisch-ideologisch verseuchten Eliten in Wirtschaft, Politik und Wissenschaft leicht gelingen, die Menschen von der Notwendigkeit zu überzeugen, der Klimaerhitzung mit technischen Mitteln des Geoengineering zu begegnen. Unter diesem Schild wird man dann Mensch und Umwelt weiter so lange auszubeuten versuchen, bis nichts mehr geht und der Zivilisationszug die Endstation Armageddon erreicht. Bezahlen müssten ihren eigenen Untergang die gleichen, die heute schon am meisten unter den sozial ungerechten Verhältnissen leiden. Unsere ach so wissenschaftlich daher kommenden Ökonomen sind in Wahrheit die Tempelpriester und Todesengel des Kapitalismus.

(Dies ist die Antwort auf einen Leserbrief im Nordbayerischen Kurier, geschrieben vom angeführten Prof. Fritz Söllner)

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